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Porträt | Gereon Wetzel und Jörg Adolph cınearte XL 009 Post2PDF

Höher. Weiter. Schneller. Von Christoph Gröner
Gereon Wetzel sieht Menschen zu, wie sie Türme und Luftschlösser bauen.
Seit einiger Zeit verbindet ihn eine enge Zusammenarbeit mit dem vielfach
prämierten Jörg Adolph: Der Anfang einer neuen Dokumentarfilm-Schule?

Wenn man einen Turm aus Menschen neun Mann hoch baut, dann kommt das große Zittern.
Fällt er oder nicht? Die Metapher für jeden Schaffensdrang ist in diesem Bild so stark, daß sie schon fast Gefahr läuft, banal zu werden. Aber sie zeigt ganz deutlich, was Gereon Wetzel immer umtreibt: Er will Prozesse zeigen, in denen es um kreative Wagnisse geht, in denen Scheitern und Erfolg ganz lange ganz nahe beieinander sind.Für Castells hat der Absolvent der HFF München diese traditionellen Menschentürme in Katalonien gefilmt. Da treten Vereine aus verschiedenen Orten, sogenannte »Collas«, gegeneinander an, und Wetzel hat eine »Colla« eine Saison lang intensiv begleitet, eben diese großen, fast dominanten Bilder mit seinem Kameramann Josef Mayerhofer eingefangen, bei denen Menschen hart fallen – um bald wieder übereinander zu krabbeln. Wetzel wußte am Ende genau, daß er diese Bildmacht stutzen mußte. Er zeigt, wo das Zittern herkommt. Daß er einen Menschenturm erst ganz zeigt, als die Hälfte seines Film um ist, ist entscheidend für die Kraft seines Films. Da kennt man schon die soziale Dynamik dahinter, die kleinen menschlichen Dramen. Vor zwei Jahren auf dem Dok-Fest München hat er den »Dokumentarfilmpreis des Bayerischen Rundfunks« für diesen Abschlußfilm an der Münchner Filmhochschule gewonnen, und wenn man damals genauer hingeschaut hätte, hätte man vielleicht schon ein anderes Zittern erkennen können: Denn damals arbeitete er erstmals mit dem Dokumentarfilmer Jörg Adolph, Träger des »Deutschen Fernsehpreises«», zusammen: Adolph hatte für Wetzel den Film geschnitten. Die beiden hatten sich als Lehrer und Student in einem Exposé-Seminar kennengelernt, Adolph ließ sich für das Projekt begeistern, das auch seiner Arbeit nahesteht. Beobachtend, ohne Kommentar, ohne Interviews, mit deutlichen Referenzen an das »Direct Cinema« der Amerikaner, von Pennebaker bis Maysles. Adolph sagt darüber: »Für mich ist das die überzeugendste Methode des Dokumentarfilms. Man muß darauf vertrauen, daß man eine Geschichte findet, die sich erzählen läßt.«
»Vielleicht ist der Unterschied zum ›Direct Cinema‹,daß ich einen stärken Willen zur Gestaltung, beispielsweise dem erzählerischen Umgang mit Musik, habe«, sagt Gereon Wetzel. Er interessiert sich für spannungsvolle Verdichtung, die auch in Castells spürbar ist, für einen betont kreativen Umgang mit der Realität. »Im Endeffekt geht es mir darum, Geschichten mit szenischen Mitteln zu erzählen«, sagt Wetzel.
Jörg Adolph hat im Kanalschwimmer ähnlich packend vom Durchhalten der Extremschwimmer zwischen Dover und Calais erzählt; und in Houwelandt spannende Bilder für die Hürden des Schreibens gefunden. In diesen Filmen gibt es wie in Castells suggestive Musik, die den Film mit erzählt, und eine Bildsprache, die neben aller Reflexion auch auf Spannung, auf Gefühl angelegt ist.

Die gemeinsamen Interessen sind unübersehbar – und in Die Reproduktionskrise trägt diese Arbeit endgültig gemeinsame Früchte. Die beiden sind hier Koregisseure, wechselten sich bei Bildund Tongestaltung der Dokumentation wöchentlich ab. »Wir hatten eigentlich schon immer vor, mal so gleichgewichtig zu arbeiten, und als Jörg von dem Theatertext Torschußpanik von Mirjam Neidhart erfuhr, schlug er mir vor, den Film zusammen zu machen«, erzählt Wetzel. Die Theaterautorin hatte Menschen über das Thema Kinderwunsch interviewt, das Thalia-Theater brachte den Text mit sechs Schauspielern auf die Bühne – nach einem schmerzhaften Probenprozeß. Schon diese Verbindung aus gesellschaftlicher Diskussion über Nachwuchs einerseits und der Geburt eines Stücks auf der Bühne ist spannend und lebendig. Aber die Abbildung eines kreativen Prozesses stellt auch immer Fragen an die filmische Darstellung: Wetzel und Adolph haben sich dem nicht verweigert, sie haben lustvoll damit gespielt, sind mit der Autorin wieder zurückgefahren zu ihren Interviewten, die dort noch einmal die Interviews experimentell nachstellten, eine erneute Dopplung mit spannenden Ergebnissen: Ein Interviewpartner, bezeichnenderweise Historiker, findet sich da nicht mehr in diesen Zeilen, sagt zu seinen Worten, »diese Geschichte ist ja sehr zugespitzt«. Hier wird das dokumentarische Arbeiten selbst dekonstruiert, und aus einem filmischen Kleinod wird ein großer Filmessay: Gesellschaftliches Problem wird artikulierter Gedanke wird Interview wird verdichteter Theatertext wird Aufführung wird Film: Eine »stille Post«, die Wetzel und Adolph hier radikal offenlegen.Die Filmemacher haben genau neun Monate an diesem Projekt gearbeitet, Wetzel sagt selbst, das klinge wie ein PR-Gag. Aber es paßt, genau so wie die Tatsache, daß sie für diesen Film direkt eingriffen und neue Interviews neu provozierten. »Ich denke, daß wir beide da unsere übliche Arbeitsweise ein wenig verlassen mußten«, sagt Wetzel. Eine reine Beobachtung hätte für diesen Essay gar nicht gereicht. Es wundert nicht, daß die beiden ihren Film mit einem programmatischen Text begleiten, der im Internet einzusehen ist. »Weder Kino noch Fernsehen sind bei der ›ernsthaften Erprobung und Weiterentwicklung dokumentarischer Formen‹ derzeit besonders hilfreich«, schreiben sie. »Hier wie dort scheinen Programm- und Wahrnehmungsraster zementiert. Dagegen ist dokumentarisches Gelingen allgemein zu flüchtig, als daß es sich mit Formatvorgaben und Quotenerwartungen auf Dauer verheiraten ließe […] Also benötigen wir zeitweiligen Unterschlupf in kulturellen Nischen.«
Da ist Ärger über die Situation des Dokumentarfilms zu spüren, und ein experimentierfreudiger Veränderungswille. Sie gehen neue Wege – und holten etwa das Goethe-Institut als Produzent mit ins Boot. Und die Filmemacher sind längst schon weiter. Adolph arbeitet an einem neuen Projekt über die Passionsspiele in Oberammergau 2010, und Wetzel wendet sich jetzt seinem bislang größten
Film zu: El Bulli. Er will Ferran Adrià ein Jahr lang bei der Arbeit beobachten, den wohl bekanntesten Koch der Welt. Im Herbst schließt der katalanische Gourmet-Tempel »El Bulli«, dann erforscht Adrià wieder neue internationaler Küchen – und Wetzel ist dabei. Es geht vordergründig um die Zubereitung von Speisen, vor allem aber erneut um einen komplexen kreativen Prozeß: Der Koch will seine Gäste mit einem 35-Gänge-Menü überraschen »Das was er macht, kann man schon fast nicht mehr als Kochen bezeichnen«, sagt Wetzel, der sich mehrfach mit Adrià getroffen hat. »Er dokumentiert alles, er dekonstruiert Gerichte. Das Beispiel schlechthin: Ein Omelett, daß am Ende aussieht wie ein Cappuccino – mit Kartoffelschaum obendrauf.
Man muß einen langen Atem haben, sagt Wetzel über sein neues Thema – bereits vor zwei Jahren kam der Kontakt zustande. Schon damals war der Koch begeistert, aber die Zusammenarbeit scheiterte am Drehplan. Daß der Kontakt aber so reibungslos funktionierte, liegt auch an Wetzels Freundin Anna Ginestí, die bei seinen katalonischen Filmen stets eine Stütze der Produktion ist. Neuer Drehstart ist nun in diesem September. Die Laborarbeit des Küchenforschers steht im Mittelpunkt, sein Restaurant erst im letzten Drittel. Interviews gibt es wieder nicht. »Wieso soll ich hochgradig künstliche Situationen darstellen? Über ihn wurden schon genug Bücher geschrieben.« Stattdessen will Wetzel wieder mittendrin sein, wie an den zusammenbrechenden Türmen, wie beim Zoff zwischen Regisseurin und Schauspielern im Thalia. Es ist wieder Neuland: »Ich war noch nie in einer Sterneküche, ich kann mir das gar nicht leisten«, schmunzelt Wetzel. 300.000 Euro, so viel wie noch nie, stecken in diesem Film, der ins Kino kommen soll.
Dafür sorgt Wetzel im extremsten Fall nun auch selbst. Denn mit Jörg Adolph und dem Produzenten Ingo Fliess, für beide der wichtigste Partner, hat er im Frühjahr die »Doc Collection« ins Leben gerufen: Einerseits ist diese neue Plattform für Dokumentarfilme ein DVD-Vertrieb, zugleich aber auch ein Verleih, der als ersten Film Die Reproduktionskrise ins Kino bringt. »Mit der ›Doc Collection‹ versuchen wir Dokumentarfilmen einen kleinen Markt von interessiertem Publikum zu öffnen, um auch geringeren DVD-Auflagen eine Chance zu geben.« Wetzel redet von Bestandssicherung: Das betrifft aktuelle Filme ohne Verleih und DVDRelease genauso wie ausgewählte Klassiker, die ebenfalls in die Edition sollen. Viermal im Jahr soll ein Film erscheinen, für Interessierte gibt es auch ein Abo-Modell. »Noch stehen wir am Anfang, aber es zeichnet sich bereit gutes Interesse ab. Bald werden auch Filme von anderen Autoren enscheinen.« Den Aufwand versuchen die Organisatoren dabei in Grenzen zu halten. Die Filmemacher selbst sorgen für Inhalte und Marketing, Verpackung und den Internet-Auftritt übernimmt »Doc Collection«. Bestellte Filme sollen zumindest am Anfang vom Filmemacher dezentral verschickt werden. Das Prinzip ist schlank – und könnte deshalb ein Erfolg werden. Alle Einnahmen der ersten 100 verkauften DVD gehen an die Filmemacher, danach bleiben 20 Prozent bei der »Agentur«: Die Macher wollen dem Dokumentarfilm, so wie sie ihn verstehen, mehr Aufmerksamkeit verschaffen – ein ästhetischer Anspruch, kein Profitmodell. Und natürlich eine Stärkung des eigenverantwortlichen Vertriebs: Mehr Rechte sollen bei den Filmern bleiben. Die »Doc Collection« positioniert sich, es formen sich erste Konturen. Vielleicht ist schon bald von einer »neuen Münchner Schule« oder »deutschen Erben des Direct Cinema« die Rede. Wenn man die Arbeit von Adolph, Wetzel und Co. zur Zeit betrachet, hat man jedenfalls den Eindruck: Da baut sich ein ziemlich stabiler Menschenturm auf.

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