Skip to content

Eröffnungsrede von Claas Danielsen zu DOK Leipzig Post2PDF

Am 26.10.2009 hielt Claas Danielsen diese kämpferische Eröffnungsrede zum 52. Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm. Wir geben die Rede hier in einem Ausschnitt wieder.

(…)
Ich bin in den letzten Wochen immer wieder von Journalisten gefragt worden, was das Besondere am Dokumentarfilm sei. Dokumentarfilme sind immer wieder überraschend. Durch die Augen der Filmemacher entdecke ich Unbekanntes oder lerne mir Vertrautes völlig neu kennen. Dokumentarfilme berühren oft unbequeme und verdrängte Fragen und thematisieren das Wesentliche.

Die Haltung des Filmemachers oder der Filmemacherin eröffnet mir einen Perspektivwechsel, eine neue Sicht auf die Welt. Ein wirklich guter Film zeichnet sich durch eine Haltung aus, die ich an der Wahl der Protagonisten, der Bilder, der Worte, der Töne, am Rhythmus, aber auch an den Auslassungen erkenne. Mit dieser subjektiven und authentischen Haltung zeigt und offenbart sich der Filmemacher, so wie sich auch die Protagonisten vor der Kamera zeigen. Natürlich machen sie sich dadurch auch angreifbar – gerade weil sie sich zeigen.

Ein guter Film öffnet mir einen Raum – einen Raum zum Nachdenken, zum Assoziieren, zum Verstehen, zum Sinnfinden. Er erklärt nicht alles, wagt Leerstellen, mutet mir Irritationen zu und schenkt mir so letztlich geistige Freiheit.
Ein guter Film öffnet mir auch den Raum für Gefühle, er ermöglicht mir ein emotionales Verständnis der Welt. Und er überlässt mir die Deutungshoheit – ich werde als einzigartiges geistiges, emotionales und seelisches Wesen ernst genommen.

Während künstlerische Dokumentarfilme mit Autorenhandschrift im Kino immer wieder Erfolge feiern, beobachte ich im Fernsehen seit Jahren die Verdrängung des Genres ins programmliche Abseits. Mir wird immer klarer, dass dies das Ergebnis einer gefährlichen Haltung Programmverantwortlicher gegenüber dem Zuschauer ist. Dieser wird oft für eingeschränkt aufnahmefähig und etwas zurückgeblieben gehalten und damit letztlich als unmündiger Bürger abgestempelt. Komplexe, ungewöhnliche und fordernde Themen und Erzählweisen sind ihm angeblich nicht mehr zuzumuten.

So setzt in den Dokumentationen des Formatfernsehens nach 30 Sekunden der Kommentar ein und zieht sich atemlos durch bis zu Minute 43, oder bei internationalen Produktionen bis Minute 52, unterbrochen nur von Interviews – alles muss leicht und eindeutig verständlich sein. Im Streben nach berechenbaren Einschaltquoten und sicherem „Audience Flow“ ist das Programm durchformatisiert worden. Festgefügte Sendungsrezepte haben das Medium erstarren lassen. Hinter diesen Formatfassaden verstecken sich die verantwortlichen Redakteure und machen sich unangreifbar. Eine redaktionelle Handschrift jedoch können sie nicht mehr hinterlassen. Sie zeigen sich nicht mehr.

Anstatt mit Neugier das Fremde zu erkunden und Vorurteile aufzubrechen, kommen Themen, die jenseits des regionalen oder nationalen Sendegebiets angesiedelt sind, fast nicht mehr vor. Bieten Sie einem Redakteur mal einen Filmstoff über Afrika an, in dem es nicht um wilde Tiere geht…

DOK Leipzig würdigt traditionell das Filmschaffen aus Ländern abseits der gut subventionierten, westlichen Filmkultur und versucht die filmischen Leerstellen in unserem Bewusstsein zu füllen. Deshalb widmen wir uns in diesem Jahr mit „T.I.A. – This is Africa“ dem afrikanischen Dokumentar- und Animationsfilm und lassen unser Publikum eintauchen in die Lebensrealitäten in den Ländern südlich der Sahara. Wir wagen den Blick hinter die Schlagzeilen von Armut, AIDS und Bürgerkriegen. Durch die Augen der einheimischen Regisseure können wir ein Afrika jenseits der Klischees entdecken, das reich ist an Kultur, an Mut, an Einfallsreichtum, an Lebenswillen – aber natürlich auch an Schmerz, Verletzungen und Verlust. Ich begrüße unsere Gäste aus Afrika besonders herzlich in Leipzig!

Bei DOK Leipzig können Sie übrigens alle Filme in ihrer Originalsprache genießen. Wann haben Sie im deutschen Fernsehen den letzten untertitelten Film gesehen? Auf ARTE? Vor 0.00 Uhr? Fremdsprachen werden in Deutschland nicht untertitelt, sondern wegsynchronisiert. Machen wir uns mal klar, was da passiert: Den Menschen vor der Kamera wird ihre Stimme genommen! Und wir als Zuschauer können ihre Emotionen nicht mehr hören. So werden wir sowohl des authentischen Gefühls als auch des Wohlklangs ihrer Stimmen und ihrer Sprachen beraubt. Wie unsere Zeit, so auch das Fernsehen: Rationales Verständnis statt sinnlichem Erleben.

Nein, ich möchte mich nicht in der wohlfeilen Schelte auf das Fernsehen verlieren und die Gräben zwischen der Filmszene und dem Medium vertiefen. Schließlich sitzen wir alle in einem Boot und können nicht ohne einander. Und doch kann ich als sehender und hörender Mensch nicht umhin festzustellen, dass sich das öffentlich- rechtliche Fernsehen freiwillig zum reinen Massenmedium hat degradieren lassen. Wir nähern uns dem kleinsten gemeinsamen Nenner und bekommen das geboten, was am wenigsten weh tut. Wir mauern uns mental ein und erzeugen ein Wir-Gefühl der Verängstigten. Seien wir ehrlich: Die vordringlichste Aufgabe des Fernsehens ist nicht mehr Bildung, Aufklärung und gesellschaftliche Teilhabe, sondern die Ruhigstellung der vielen sozial absteigenden Menschen.
In dieser Situation wird der Dokumentarfilm, geschweige denn etwas so unkontrollierbares, fantastisch wildes und manchmal auch anarchisches wie der animierte Kurzfilm, in den Büros der Programmplaner nicht mehr wertgeschätzt, von den Produktionsleitern nicht mehr anständig finanziert und im Programm nicht mehr angemessen platziert. Doch ohne das Fernsehen kann der Dokumentarfilm – zumindest momentan – nicht existieren. Und das Fernsehen verarmt inhaltlich und ästhetisch, verliert breite Zuschauerschichten und wird immer irrelevanter. Wann endlich werden von den Marktforschungsinstituten die Nicht-mehr-Fern-Seher gezählt?! Ich nenne das mal die „Schattenquote“.

Ich fordere die Kolleginnen und Kollegen in den von uns allen finanzierten Funkhäusern auf: Steuern Sie um und widerstehen Sie. Zeigen Sie sich! Zeigen Sie ihre Frustration und Wut, die ich in Gesprächen mit intelligenten Redakteuren immer wieder höre. (…)

Soweit Claas Danielsen. Die gesamte Rede können Sie auf der Seite von Dokfestival Leipzig nachlesen: http://www.dok-leipzig.de/v2/cms/de/dok-festival/dok-extra/page920.html

Post a Comment

Your email is never published nor shared. Required fields are marked *
*
*