Skip to content

CASTINGAUFRUF - Neues aus dem Menschenzoo Post2PDF

Diesen Beitrag schickte uns ein legendärer Filmemacher und mehrfacher Grimme-Preisträger. Ihn erreichte diese Rundmail:

Unsere Castingagentur hält nach Probanten Ausschau, die Lust haben, bei dem neuen Format “Raus aus Hotel Mama” dabei zu sein!
Es handelt sich um eine TV-Dokumentation über Familien, die einen Sohn haben, der partout nicht das bequeme “Hotel Mama” verlassen möchte und nun zunehmend alle damit nervt.
Wichtig: Der “Nesthocker” darf vor dem Dreh nichts von seinem Rauswurf erfahren! Er soll glauben, es werde eine Doku zum Thema “noch bei den Eltern wohnen” gedreht.
Gesucht werden Eltern, die einen “Nesthocker” haben und auch wirklich bereit sind, im Rahmen dieser Sendung und vor laufender Kamera den Rauswurf zu vollziehen. Alter der Nesthocker: 22 bis 40 Jahre (über 25 bevorzugt).
Die Eltern sollen einen gewissen Leidensdruck verspüren, ihren Sprössling endlich auf eigene Beine zu stellen. Aber bitte keine Eltern, die ihr Kind einfach nur loswerden wollen! Sie sollen sich auch echte Sorgen um die Lebensfähigkeit ihres Nachwuchses machen.
Der Nesthocker sollte am besten keinen eigenen Job haben und somit auch finanziell von den Eltern abhängig sein.
Ein theoretisches Entwicklungspotential sollte beim Sohn gegeben sein. Wenn es zum Dreh kommt, wird der Nesthocker von einem Coach begleitet und bekommt Unterstützung zum Start seiner neuen Selbständigkeit.
Wichtig ist, dass sich die Eltern den Regeln der Sendung unterwerfen!
Dazu gehört, dass sie in den drei Wochen des Drehs KEINEN Kontakt zu ihrem Sohn aufnehmen und ihn auch finanziell nicht unterstützen dürfen.
Gedreht wird mit den Eltern insgesamt 3 Tage (2 am Anfang und 1 am Ende der drei Wochen). Mit dem Sohn insgesamt 7 Tage innerhalb der drei Wochen.
Wenn Ihr jemanden kennt, der auf obige Beschreibung passt oder gar selbst mit einem “Nesthocker” gesegnet seid, meldet Euch!
Es gibt natürlich eine finanzielle Aufwandsentschädigung. Näheres erfahren Probanten, die in die engere Auswahl kommen.

Und hier seine Reaktion:

Hallo, habe gerade die Rundmail bekommen und hätte da noch ein paar Ideen: Könnte man den Nesthocker nicht in einen Sack stecken, entführen und  in einem “Dritte-Welt-Land” frei lassen? Das wäre doch noch spannender und man hätte gleich die Globalisierung noch drin. Auch ist dort das Casting von Protagonisten und dramatischen Locations viel preiswerter.
Man muss ja die Dramatik steigern können und der Nesthocker muss ja bis zum Schluss die volle Breitseite des Lebens abbekommen.
Gut fände ich auch, wenn er ins Drogen/Prostitutions-Milieu geriete. Man könnte dann auch noch irgendwas mit Folter drehen - das macht sich immer gut in den täglichen Menschen-Zoo-Formaten.
Viel Spass beim Dreh wünscht -Ihr V.A.

Schicken Sie uns bitte auch Ihre schönsten Doku-Casting-Aufrufe!

Das DocCollection-Team

Die Hure Trixie und das dokumentarische Fernsehen Post2PDF

Von Jörg Adolph

„Die Hure Trixie“ steht als Überschrift am oberen Bildrand. Wir schauen N24. Auf dem unteren Textband laufen die neuesten Nachrichten und Börsenmeldungen durchs Bild und oben steht tatsächlich die ganze Zeit: „Die Hure Trixie – Die schwangere Hure Trixie und der Telefonsex.“ Also für den recht wahrscheinlichen Fall, dass man gerade vergessen hat, welchen Sender man guckt, was genau da zu sehen ist oder generell die Orientierung verloren hat, kann man oben jederzeit nachlesen, dass dies Trixie, eine schwangere Hure im Telefonsexgewerbe auf N24 ist. Der Bindestrich, der vom Untertitel überleitet, zeigt an, dass wir es mit einer Fortsetzungsgeschichte zu tun haben - Es gibt wohl mehrere Episoden mit Trixie, mal mit, mal ohne Telefonsex.

Bei N24 steht nun aber in der Programmauskunft zur Sendung keineswegs serieller TV-Groschenroman, sondern Reportage XXL:
“45 Minuten lang Spannung, Action und Hintergründe zu einem speziellen Thema – unterhaltend, informativ und umfassend recherchiert. Die N24 Reportage XXL blickt hinter die Kulissen der Gesellschaft und erzählt außergewöhnliche Geschichten aus aller Welt. Die Reporter beleuchten die ganze Story – alle Aspekte zu Ereignissen, Phänomenen und Menschen. Die XXL-Reportage lässt nichts aus.“

Bis auf dieses modische XXL und das anbiedernde LÄSST NICHTS AUS, beinhaltet dieser Text - exakt wie er da steht - das herrschende dokumentarische Esperanto, wie es von Filmemachern, Redakteuren und Kritikern heute in aller Welt gesprochen wird: Eine universelle Sprache, mit der auch jede Arte-Doku konzipiert und beworben wird. Und weil das so ist, ist Trixie nicht einfach ein besonders merkwürdiger Fall unserer medialen Realität, sondern eine Wegmarke für die Entwicklung des dokumentarischen Fernsehens. Überall ist Trixie-TV: Immer muss es unterhaltend, informativ und umfassend recherchiert sein. Wir blicken ständig hinter die Kulissen und bekommen selbstverständlich außergewöhnliche Geschichten aus aller Welt serviert. Die ganze Story! Das ist die TV-Mindesterwartung. Darunter schalten wir den Fernseher erst gar nicht ein. Jetzt muss das nur noch mit Inhalt gefüllt, im Detail hergestellt und in einen konkreten Film umgesetzt werden. Wie das geht? Schauen wir einfach bei Trixie nach.

1. Die Hure Trixie und die unglaubliche Redundanz

Trixie kommt gerade von einer Ultraschalluntersuchung. Der Arzt hat ihr bestätigt: Mutter und Kind sind wohlauf. Trixie hält sich den runden Bauch und geht mit schweren Schritten den Krankenhausflur entlang. Trotz Schwangerschaft benutzt sie nicht den Fahrstuhl, sondern wir sehen sie im grünlich beleuchteten Treppenhaus wieder. Sie müht sich die Stufen hinunter, kommt kaum an der Kamera vorbei, so fortgeschritten ist die Schwangerschaft bereits. Und man kann aus ihrem Gesichtsausdruck nicht so recht erkennen, ob sie Schmerzen hat oder sich kurz vor einem Heulkrampf befindet. Die Kamera schwenkt ihr hinterher, bis Trixie am Treppenabsatz zusammenbricht und weint. Die Kamera nähert sich ihr, während ihr Schluchzen lauter wird. Dann blickt Trixie in die Kamera und entschuldigt sich: Denn ausgerechnet jetzt, wo sie doch eigentlich glücklich sein sollte, weil sie wieder ein Kind bekommt, hat sie ihr Freund sitzengelassen. Die Kamera scheint Verständnis zu haben und entfernt sich ein paar Meter. Traurige Musik setzt ein und ein Kommentar erklärt, dass Trixie sich nichts sehnlicher gewünscht hat, als eine heile Familie, nun aber, obwohl sie die Männer zumindest beruflich recht gut kennt, wieder auf den Falschen reingefallen ist. Schnitt.

Ein unwirtliches Treppenhaus, eine zusammengekauerte Schwangere auf den kalten Stufen, Tränen, Einsamkeit. Die ganz großen Emotionen. Zudem steht die Kamera perfekt und bewegt sich genau im richtigen Moment. Das hat man bei „Verbotene Liebe“ schon schlechter gesehen. Doch das hier soll dokumentarisch sein. Und weil die Macher von Trixie ahnen, dass das alles ein bisschen zu schön, zu deutlich und zu kitschig sein könnte - selbst für ein XXL-Format - spricht Trixie, wie es im Reality-TV üblich ist, direkt in die Kamera. Damit macht sie nicht nur das Filmteam, sondern vor allem die Zuschauer zu Verbündeten. Der vorgetäuschte Duktus der „szenischen Beobachtung“ wird unterbrochen, zugunsten einer medialen Selbstbehauptung. Jetzt spricht Trixie. Sie erläutert ihr Innenleben und zwar ohne, dass ein Reporter fragen müsste: „Wie fühlst Du Dich jetzt?“ Sie weiß einfach, was von ihr erwartet wird. Das macht man so im Fernsehen. Einfach schwanger zusammenbrechen und weinen geht nicht. Das muss gleich und mehrfach erklärt werden. So findet Trixie die passenden Worte, indem sie kurzerhand die Handlung der letzten Folge zusammenfasst. Das reicht natürlich noch nicht an Erklärung und Dramatisierung. Es müssen noch ein paar Redundanz-Schleifen mehr gelegt werden. Also doppelt die Musik die Gefühle und verdreifacht der Kommentar die Information der Szene.

Das alles wäre komisch, wenn nicht eben diese Stilmittel mittlerweile fast jedes dokumentarische Format prägen. Eine Mischung aus inszenierter Szene, gespielten Emotionen, verstecktem Interview, Musikbrei und überdeutlichen Kommentar ist längst der dokumentarische Normalfall. Vielleicht wird das auf Arte eine Spur dezenter hergestellt oder ein wenig besser versteckt. Von der Machart bleibt es sich fast immer gleich.

2. Die Hure Trixie und das bisschen Realität

Sitzengelassen und mit Kind im Bauch, muss Trixie sich nun etwas einfallen lassen, um ihren Lebensstandard zu halten. Mit Blick auf den Sendungstitel im oberen Bildrand ahnen wir es bereits: Die Lösung ihrer Probleme hat etwas mit Telefonsex zu tun. Trixie verabredet sich mit ihrer besten Freundin in einem Lokal und erzählt von ihren Sorgen: „Früher habe ich 1000 Euro die Nacht verdient und jetzt droht mir Hartz IV.“ Aber sie hat schon eine Idee, wie sie was dazu verdienen kann… „Dachte ich es mir doch, dass Du was im Schilde führst,“ antwortet ihre Freunde, „sonst hättest Du mich doch nicht hier her bestellt.“ Es folgt ein Interview mit der Freundin in deren Wohnzimmer, bei dem sie bestätigt, was der Zuschauer sich längst denken soll. Nämlich, dass Trixie eine starke, eigenständige Frau ist, die sich niemals unterkriegen lässt, auch wenn der Mann weg ist und das Kind beinah auf der Welt. Eine Frau geht ihren Weg und wenn es dafür eben Telefonsex sein muss, dann muss das wohl so sein. Schnitt zurück ins Lokal, wo zur Feier des Tages Sekt kredenzt wird. Die beiden Frauen freuen sich über die gute Idee und dass man auch als Schwangere noch ganz gut Geld verdienen kann.

Sicherlich glaubt man keine Sekunde, dass die Freundin nicht schon längst über Trixies Pläne Bescheid weiß. Ganz offensichtlich ist das Gespräch gestellt und die beiden sollen für die Kamera bitte schön so tun, als würden sie zum ersten Mal die neue Arbeitsmöglichkeit erwägen. Dabei nimmt die „beste Freundin“ vermittelnd die Haltung eines skeptischen Zuschauers ein und steht dem Telefonsex-Thema erst ein wenig zweifelnd gegenüber, nimmt dann aber gerne die pragmatische Lösung an. Die große Künstlichkeit des Gesprächs wird unterbrochen durch ein inhaltlich überflüssiges Interview, das dazu dient, die dokumentarische Realität der Szene zu unterfüttern. Hier wird nicht nur Gespräch unter Freundinnen gespielt, hier wird vor allem Doku gespielt. Die dokumentarische Form des Interviews lenkt von der seifigen Konstruktion der Szene im Lokal ab und konstruiert eine neue filmische Realität, allein durch die standardisierte Form: So sieht eben Dokumentarisches aus, da können die Laiendarsteller in der Gesprächsszene noch so unglaubwürdig chargieren. In der Mischung wird das schon irgendwie ein authentisches Gefühl erzeugen und wer es glaubt wird schließlich selig.

Nach der Sendung erkundigen sich im Internet viele Zuschauer, um die E-Mail-Adresse von Trixie zu bekommen. Sie wollen ihr schreiben, wie „toll, super und bewundernswert“ sie ihr Verhalten finden: „Hallo, der Beitrag von Trixie lief die letzten drei Tage… Ich habe gestaunt was für eine Kraft diese Frau hat, sogar mein Mann hat das mit verfolgt und das soll schon was heißen. Ich würde auch gerne Kontakt mit ihr aufnehmen. LG Cindy.“

Eine Zuschauerin äußert berechtigte (und dokumentarisch wichtige) Zweifel an der Machart des Films und an der Realität des Gesehenen: „Es wurden zum Beispiel Bilder gezeigt, als sie mit IHM noch GLÜCKLICH war. Wie jetzt, hatte die die Kameras schon von Anfang an dabei???“ Eine andere Zuschauerin wiegelt diese Kritik im Ansatz ab und bringt die Debatte schnell auf den Punkt: „Eine GESCHICHTE war es allemal und ein Körnchen WAHRHEIT wird schon drin sein, gell?“ Die Frage nach Fakt oder Fake ist damit hinfällig.
Aber eigentlich sollte doch ein Blick auf den Sendungstitel genügen, um die Trixie-Geschichte auf eine Realitätsstufe mit den Fällen der Richterin Barbara Salesch und ihrer Kollegen zu stellen. Einst wurde von der Richterin im Nachmittagsprogramm folgendes verhandelt: „Ein katholischer Vikar wird beschuldigt seine heimliche Geliebte mit einem vergifteten Dildo ermordet zu haben.“ Wahnsinns-Geschichte und doch findet auch hier der eine oder die andere noch ein Körnchen Wahrheit. Im Internetforum der Trixie-Zuschauer wird wenig gezweifelt, vielmehr geglaubt, bewundert und sich identifiziert. Und nur darum geht’s: Sendungsziel erreicht.

Seit das Fernsehen erkannt hat, dass es viel einfacher und deutlich wirksamer ist, das bisschen Realität, welches die Zuschauer sehen wollen, selbst zu inszenieren, sind alle dokumentarischen Überzeugungen ins Wanken geraten. Es hat ein Hochrüsten an dramaturgischen Erwartungen und dramatischen Momenten stattgefunden. Info, Story, Emotionen! Und dann das Gleiche noch mal von vorn. Einmal mit der Redundanz und dem Laienspiel angefangen, scheint es kein Zurück mehr zu geben, denn man kann unmöglich „die ganze Story“ erzählen ohne kräftig nachzuhelfen. Und dem Verstehen muss man ebenso massiv nachhelfen wie den Emotionen. Spektakuläre Themenwahl, forcierter Darstellungsdruck und die ganze, große Geschehensflut lassen realistische dokumentarische Arbeitsweisen blass aussehen und höhlen letztlich alles Lebendige aus. Wer das Prinzip Trixie einmal verinnerlicht hat, braucht wirklich keine Dokumentarfilme mehr.

Dann Telefonsex. Trixie thront auf ihrem Bett. Wir hören nicht was sie sagt, wir erfahren natürlich nichts über ihr Huren-Handwerk. Stattdessen behauptet ein Kommentar, dass dies gar keine einfache Situation sei für Trixie, im Gegenteil, es koste sie viel Überwindung, aber es ginge schließlich nicht anders, sie müsse Geld verdienen. Trixie verabschiedet sich betont zärtlich von ihrem Kunden – „Ja, schön, es hat Dir gefallen, Du rufst wieder an, bis morgen, Tschüss.“ - und legt auf. Dann spricht sie wieder zur Kamera: Es sei schon komisch gewesen. Sie ist ja hochschwanger, aber dem Mann müsse sie Lust vortäuschen, obwohl ihr doch momentan gar nicht danach zumute ist, eher nach Nestbau und kuscheln. Und sie habe dem Mann ja auch nicht erzählt, dass sie schwanger ist. Das käme ihr ein wenig wie Betrug vor, weil der Mann ja nicht ahnt, dass Sie ihm was vorspielt. Aber es wäre auch ein tolles Gefühl, wieder einen Mann so in der Hand zu haben, ihn so manipulieren zu können. Musikeinsatz. Ausgetrixiet. Nächste Sendung.

3. Die Hure Trixie und die Medienkarriere

Zum Glück ist die Geschichte von Trixie deutlich komplexer, als es sich mittels Scripted Reality oder Reportage XXL verhandeln ließe. Es taugt zum Sittengemälde. Die Geschichte ist tatsächlich „ein Blick hinter die Kulissen der Gesellschaft“ und darüber könnte man vielleicht einen Dokumentarfilm machen.

Man braucht nicht lange zu googeln, um Trixies Weg verfolgen zu können. Gemeinsam mit dem Autoren Karl-Heinz Schmidt-Lauzemis – der für TV-Serien wie Verbotene Liebe Drehbücher geschrieben hat – ist von ihr die Biographie mit dem simmelesken Titel „Hinter den Wolken ist der Himmel blau“ erschienen. INHALTSANGABE: „Die Berliner Prostituierte Trixie Hübschmann (32) erzählt ihr Leben von der Kindheit in der DDR, einer misslungenen Ausbildung, ihren Ausreißversuchen von Zuhause, ihren ersten sexuellen Abenteuern und ihrem Weg durch verschiedene Stationen der Prostitution und schließlich ihren Versuchen des Ausstiegs und einer zukünftigen Karriere in den Medien.“

Und genau diese „Karriere in den Medien“ bzw. die Anfänge oder das Ende davon, sind gerade zu sehen. Trixie ist ihr eigener Reality-Star. Man kennt noch diese Anzeigen: „Schreiben sie ihre Schicksalsgeschichte auf und werden sie Buchautor…“ Das hat Trixie längst hinter sich gelassen. Was wirklich zählt ist der mediale Rundumschlag, das Aufgehen im Medienverbund. Trixie ist mit ihrem Buch bei Pro 7 durch die einschlägigen Formate gewandert. Vor Jahren war sie Content bei „Liebe Sünde“. Dann konnte man Trixie bei „taff“ erleben. Dort hat sie sich für größere Aufgabe qualifiziert, nämlich für „We are Family!“: Sendung vom 18.12.2007 - „Die Hure Trixie – schwanger und sitzengelassen.“ Ein Real-Life-Format bei dem Pro7 wie gewohnt nichts dem Zufall überlässt. Diese Sendung ist die konsequente Fortsetzung der Krawalltalkshows mit dokumentarischen Mitteln: Undercover Fiction, Authentizitäts-Porno, You-name-it. Von hier aus geht Trixie in Serie und spielt ihr Leben nach trivialen Mustern nach und weiter: Trixie versucht Geld für eine Brust-OP zu bekommen, lernt auf einer Striptease-Party den Restaurantbesitzer Ahmed Ben Amor kennen. Für beide ist es Liebe auf den ersten Blick. Sie wird schwanger, wird verlassen, wird schließlich umformatiert und landet beim Schwestersender N24 als Reportage XXL. Sie bekommt bewundernde Fanpost, im Internet wird über sie diskutiert, sie veröffentlicht nach einer ersten Verlagspleite ihr Buch im Eigenverlag und versucht mehr und mehr aus sich und Ihrer Geschichte zu machen. Es ist ein Geben und Nehmen: Ihr filmt mich, wie ich mein Leben ausbeute, dafür werde ich bezahlt, werde bekannt und aus meiner Schwangerschaft machen wir auch noch eine tolle Geschichte… Eine Selfmade-Frau mit dem Traum vom Berühmtsein. Irgendwie, irgendwo, irgendwas mit Medien. Fortsetzung folgt.

Porträt | Gereon Wetzel und Jörg Adolph cınearte XL 009 Post2PDF

Höher. Weiter. Schneller. Von Christoph Gröner
Gereon Wetzel sieht Menschen zu, wie sie Türme und Luftschlösser bauen.
Seit einiger Zeit verbindet ihn eine enge Zusammenarbeit mit dem vielfach
prämierten Jörg Adolph: Der Anfang einer neuen Dokumentarfilm-Schule?

Wenn man einen Turm aus Menschen neun Mann hoch baut, dann kommt das große Zittern.
Fällt er oder nicht? Die Metapher für jeden Schaffensdrang ist in diesem Bild so stark, daß sie schon fast Gefahr läuft, banal zu werden. Aber sie zeigt ganz deutlich, was Gereon Wetzel immer umtreibt: Er will Prozesse zeigen, in denen es um kreative Wagnisse geht, in denen Scheitern und Erfolg ganz lange ganz nahe beieinander sind.Für Castells hat der Absolvent der HFF München diese traditionellen Menschentürme in Katalonien gefilmt. Da treten Vereine aus verschiedenen Orten, sogenannte »Collas«, gegeneinander an, und Wetzel hat eine »Colla« eine Saison lang intensiv begleitet, eben diese großen, fast dominanten Bilder mit seinem Kameramann Josef Mayerhofer eingefangen, bei denen Menschen hart fallen – um bald wieder übereinander zu krabbeln. Wetzel wußte am Ende genau, daß er diese Bildmacht stutzen mußte. Er zeigt, wo das Zittern herkommt. Daß er einen Menschenturm erst ganz zeigt, als die Hälfte seines Film um ist, ist entscheidend für die Kraft seines Films. Da kennt man schon die soziale Dynamik dahinter, die kleinen menschlichen Dramen. Vor zwei Jahren auf dem Dok-Fest München hat er den »Dokumentarfilmpreis des Bayerischen Rundfunks« für diesen Abschlußfilm an der Münchner Filmhochschule gewonnen, und wenn man damals genauer hingeschaut hätte, hätte man vielleicht schon ein anderes Zittern erkennen können: Denn damals arbeitete er erstmals mit dem Dokumentarfilmer Jörg Adolph, Träger des »Deutschen Fernsehpreises«», zusammen: Adolph hatte für Wetzel den Film geschnitten. Die beiden hatten sich als Lehrer und Student in einem Exposé-Seminar kennengelernt, Adolph ließ sich für das Projekt begeistern, das auch seiner Arbeit nahesteht. Beobachtend, ohne Kommentar, ohne Interviews, mit deutlichen Referenzen an das »Direct Cinema« der Amerikaner, von Pennebaker bis Maysles. Adolph sagt darüber: »Für mich ist das die überzeugendste Methode des Dokumentarfilms. Man muß darauf vertrauen, daß man eine Geschichte findet, die sich erzählen läßt.«
»Vielleicht ist der Unterschied zum ›Direct Cinema‹,daß ich einen stärken Willen zur Gestaltung, beispielsweise dem erzählerischen Umgang mit Musik, habe«, sagt Gereon Wetzel. Er interessiert sich für spannungsvolle Verdichtung, die auch in Castells spürbar ist, für einen betont kreativen Umgang mit der Realität. »Im Endeffekt geht es mir darum, Geschichten mit szenischen Mitteln zu erzählen«, sagt Wetzel.
Jörg Adolph hat im Kanalschwimmer ähnlich packend vom Durchhalten der Extremschwimmer zwischen Dover und Calais erzählt; und in Houwelandt spannende Bilder für die Hürden des Schreibens gefunden. In diesen Filmen gibt es wie in Castells suggestive Musik, die den Film mit erzählt, und eine Bildsprache, die neben aller Reflexion auch auf Spannung, auf Gefühl angelegt ist.

Die gemeinsamen Interessen sind unübersehbar – und in Die Reproduktionskrise trägt diese Arbeit endgültig gemeinsame Früchte. Die beiden sind hier Koregisseure, wechselten sich bei Bildund Tongestaltung der Dokumentation wöchentlich ab. »Wir hatten eigentlich schon immer vor, mal so gleichgewichtig zu arbeiten, und als Jörg von dem Theatertext Torschußpanik von Mirjam Neidhart erfuhr, schlug er mir vor, den Film zusammen zu machen«, erzählt Wetzel. Die Theaterautorin hatte Menschen über das Thema Kinderwunsch interviewt, das Thalia-Theater brachte den Text mit sechs Schauspielern auf die Bühne – nach einem schmerzhaften Probenprozeß. Schon diese Verbindung aus gesellschaftlicher Diskussion über Nachwuchs einerseits und der Geburt eines Stücks auf der Bühne ist spannend und lebendig. Aber die Abbildung eines kreativen Prozesses stellt auch immer Fragen an die filmische Darstellung: Wetzel und Adolph haben sich dem nicht verweigert, sie haben lustvoll damit gespielt, sind mit der Autorin wieder zurückgefahren zu ihren Interviewten, die dort noch einmal die Interviews experimentell nachstellten, eine erneute Dopplung mit spannenden Ergebnissen: Ein Interviewpartner, bezeichnenderweise Historiker, findet sich da nicht mehr in diesen Zeilen, sagt zu seinen Worten, »diese Geschichte ist ja sehr zugespitzt«. Hier wird das dokumentarische Arbeiten selbst dekonstruiert, und aus einem filmischen Kleinod wird ein großer Filmessay: Gesellschaftliches Problem wird artikulierter Gedanke wird Interview wird verdichteter Theatertext wird Aufführung wird Film: Eine »stille Post«, die Wetzel und Adolph hier radikal offenlegen.Die Filmemacher haben genau neun Monate an diesem Projekt gearbeitet, Wetzel sagt selbst, das klinge wie ein PR-Gag. Aber es paßt, genau so wie die Tatsache, daß sie für diesen Film direkt eingriffen und neue Interviews neu provozierten. »Ich denke, daß wir beide da unsere übliche Arbeitsweise ein wenig verlassen mußten«, sagt Wetzel. Eine reine Beobachtung hätte für diesen Essay gar nicht gereicht. Es wundert nicht, daß die beiden ihren Film mit einem programmatischen Text begleiten, der im Internet einzusehen ist. »Weder Kino noch Fernsehen sind bei der ›ernsthaften Erprobung und Weiterentwicklung dokumentarischer Formen‹ derzeit besonders hilfreich«, schreiben sie. »Hier wie dort scheinen Programm- und Wahrnehmungsraster zementiert. Dagegen ist dokumentarisches Gelingen allgemein zu flüchtig, als daß es sich mit Formatvorgaben und Quotenerwartungen auf Dauer verheiraten ließe […] Also benötigen wir zeitweiligen Unterschlupf in kulturellen Nischen.«
Da ist Ärger über die Situation des Dokumentarfilms zu spüren, und ein experimentierfreudiger Veränderungswille. Sie gehen neue Wege – und holten etwa das Goethe-Institut als Produzent mit ins Boot. Und die Filmemacher sind längst schon weiter. Adolph arbeitet an einem neuen Projekt über die Passionsspiele in Oberammergau 2010, und Wetzel wendet sich jetzt seinem bislang größten
Film zu: El Bulli. Er will Ferran Adrià ein Jahr lang bei der Arbeit beobachten, den wohl bekanntesten Koch der Welt. Im Herbst schließt der katalanische Gourmet-Tempel »El Bulli«, dann erforscht Adrià wieder neue internationaler Küchen – und Wetzel ist dabei. Es geht vordergründig um die Zubereitung von Speisen, vor allem aber erneut um einen komplexen kreativen Prozeß: Der Koch will seine Gäste mit einem 35-Gänge-Menü überraschen »Das was er macht, kann man schon fast nicht mehr als Kochen bezeichnen«, sagt Wetzel, der sich mehrfach mit Adrià getroffen hat. »Er dokumentiert alles, er dekonstruiert Gerichte. Das Beispiel schlechthin: Ein Omelett, daß am Ende aussieht wie ein Cappuccino – mit Kartoffelschaum obendrauf.
Man muß einen langen Atem haben, sagt Wetzel über sein neues Thema – bereits vor zwei Jahren kam der Kontakt zustande. Schon damals war der Koch begeistert, aber die Zusammenarbeit scheiterte am Drehplan. Daß der Kontakt aber so reibungslos funktionierte, liegt auch an Wetzels Freundin Anna Ginestí, die bei seinen katalonischen Filmen stets eine Stütze der Produktion ist. Neuer Drehstart ist nun in diesem September. Die Laborarbeit des Küchenforschers steht im Mittelpunkt, sein Restaurant erst im letzten Drittel. Interviews gibt es wieder nicht. »Wieso soll ich hochgradig künstliche Situationen darstellen? Über ihn wurden schon genug Bücher geschrieben.« Stattdessen will Wetzel wieder mittendrin sein, wie an den zusammenbrechenden Türmen, wie beim Zoff zwischen Regisseurin und Schauspielern im Thalia. Es ist wieder Neuland: »Ich war noch nie in einer Sterneküche, ich kann mir das gar nicht leisten«, schmunzelt Wetzel. 300.000 Euro, so viel wie noch nie, stecken in diesem Film, der ins Kino kommen soll.
Dafür sorgt Wetzel im extremsten Fall nun auch selbst. Denn mit Jörg Adolph und dem Produzenten Ingo Fliess, für beide der wichtigste Partner, hat er im Frühjahr die »Doc Collection« ins Leben gerufen: Einerseits ist diese neue Plattform für Dokumentarfilme ein DVD-Vertrieb, zugleich aber auch ein Verleih, der als ersten Film Die Reproduktionskrise ins Kino bringt. »Mit der ›Doc Collection‹ versuchen wir Dokumentarfilmen einen kleinen Markt von interessiertem Publikum zu öffnen, um auch geringeren DVD-Auflagen eine Chance zu geben.« Wetzel redet von Bestandssicherung: Das betrifft aktuelle Filme ohne Verleih und DVDRelease genauso wie ausgewählte Klassiker, die ebenfalls in die Edition sollen. Viermal im Jahr soll ein Film erscheinen, für Interessierte gibt es auch ein Abo-Modell. »Noch stehen wir am Anfang, aber es zeichnet sich bereit gutes Interesse ab. Bald werden auch Filme von anderen Autoren enscheinen.« Den Aufwand versuchen die Organisatoren dabei in Grenzen zu halten. Die Filmemacher selbst sorgen für Inhalte und Marketing, Verpackung und den Internet-Auftritt übernimmt »Doc Collection«. Bestellte Filme sollen zumindest am Anfang vom Filmemacher dezentral verschickt werden. Das Prinzip ist schlank – und könnte deshalb ein Erfolg werden. Alle Einnahmen der ersten 100 verkauften DVD gehen an die Filmemacher, danach bleiben 20 Prozent bei der »Agentur«: Die Macher wollen dem Dokumentarfilm, so wie sie ihn verstehen, mehr Aufmerksamkeit verschaffen – ein ästhetischer Anspruch, kein Profitmodell. Und natürlich eine Stärkung des eigenverantwortlichen Vertriebs: Mehr Rechte sollen bei den Filmern bleiben. Die »Doc Collection« positioniert sich, es formen sich erste Konturen. Vielleicht ist schon bald von einer »neuen Münchner Schule« oder »deutschen Erben des Direct Cinema« die Rede. Wenn man die Arbeit von Adolph, Wetzel und Co. zur Zeit betrachet, hat man jedenfalls den Eindruck: Da baut sich ein ziemlich stabiler Menschenturm auf.

No Doku Post2PDF

Auf dem Weg zur Post mit DVDs der DOCCOLLECTION zum Verschicken unterm Arm, schaue ich zum ersten Mal auf den Plastikaufkleber in den der Lieferschein eingelegt wird und erblicke links unten im Eck diesen Warennamen: docuFIX LD Classic. Wahnsinn: docuFIX!
Ich reagiere allgemein allergisch, wenn ich das Wort Doku nur höre. Und jetzt schicken wir unsere dokumentarischen Filmarbeiten ausgerechnet mit diesem Label in die Welt. Dabei ist Doku einfach ein Schimpfwort und sollte unbedingt auch so verwendet werden. Das hat sich nur noch nicht rum gesprochen. “Ich drehe gerade ne Doku” (Subtext: “Bevor ich dann was Richtiges mache”), tönt der Regisseur, Journalist oder Werbefilmer, wackelt mit der Digital-Kamera durch die Gegend, interviewt was halt so zu interviewen ist und legt seine Lieblingsmusiken an. Und das ist jetzt wirklich kaum übertrieben…

Es gab eine Zeit, da muss es sich gut und richtig angehört haben, wenn von Doku die Rede war. Damals galt es die Dokumentation wieder schmackhaft zu machen und diese leicht bekömmlich zu präsentieren. Zu dieser Zeit schienen Worte wie trocken, langweilig oder anstrengend, mit Dokumentation eine feste Verbindung eingegangen zu sein. Keine Angst – wollte man sagen - ist keine trockene, langweilige oder anstrengende Dokumentation. Ist nur Doku. Die Kurzform als Verniedlichung für ein ungeliebtes Genre: Tut nicht weh, dauert nicht so lang, erfordert wenig Nachdenken, niemand wird belehrt und man muss gar nicht so genau hinschauen. Und so wurde alles irgendwie Doku. Doku-Soap hier, Dokutainment da und schließlich sogar “Der Doku-Sommer” auf 3sat. Bald wurden auch Titel zum Standard, die schon von weitem nach Doku rochen: “Nackt und frei in Amsterdam” - Doku. “Auf der Suche nach Hitlers Leichnam” - Doku.
Mein Lieblingsdokutitel kommt vom NDR und lautet: “Der Robbenflüsterer von Hagenbeck” (Untertitel:) “Ein Mann für nasse Felle.” Echt Doku.

Nun war es mit der Genre-Verniedlichung und dem Sendungstitelgeblödel nicht getan. Denn wo Doku drauf stand, sollte auch Doku drin sein. Also wurden vormals säuberlich getrennte Formen wie Reportage, Feature oder Dokumentation allesamt dokufiziert und ihre Stilmittel, ihre Präsentationsformen, ihre Haltungen munter vermischt. Angesichts der entfesselten Doku-Dynamik verlor das öffentlich-rechtliche Fernsehen schnell sein Interesse an jahrzehntelang gepflegten dokumentarischen Kernkompetenzen. Mit einer zusammengeschusterten, auf schlichte Effekte und reproduzierbare Emotionen ausgerichteten Doku-Soap konnte man spielend leicht mehr Zuschauer erreichen, als durch einen Dokumentarfilm zum gleichen Thema. Also nix wie her mit der Doku. Das machte man solange, bis sich die Genregrenzen auflösten und „Alles Doku – oder was?“ (Fritz Wolf) wurde. In italienischen Lokalen gibt es auf der Speisekarte oft ein Gericht, das „Fritto Misto“ heißt: Alles rein in die Friteuse, schön kross außen und innen geschmacksneutral fettig. So muss auch die gängige Doku-Form charakterisiert werden: FRITTO MISTO STYLE.

Als der Dokumentarfilm im Fernsehen nur noch in seiner frittierten Form vorkam, wanderten die letzten Dokumentarfilmautoren und der kulturell aufgeschlossene Teil des Publikums ab und suchten ihr Glück in der Gegenöffentlichkeit des Kinos. Bald war dort (so stand es zumindest in den großen Feuilletons) ein “Dokumentarfilm-Boom” zu erleben. Über diesen Erfolg ist man nun immer noch so erstaunt, dass es kaum auffällt, wenn auch im Kino hauptsächlich Dokus zu sehen sind, wenn auch in abendfüllender Länge.
Es wird viel über den meist exotischen, politischen oder gesellschaftlich-relevanten Inhalt, aber wenig über das dokumentarische Handwerk nachgedacht, wenn Menschen Dokumentarisches machen, sehen oder besprechen. Thema ist Trumpf im Dokukino. Für die Feinjustierung filmischer Stilfragen gibt es ja die fiktionale Form. Und so sind die einschlägigen dokumentarischen Kino-Publikumsrenner fast alle im Fritto Misto Style konzipiert ohne wirkliches Interesse an dokumentarischen Möglichkeiten. Was da angeblich im Kino boomt ist nicht der Dokumentarfilm, es ist nur Doku.

Es mit Begriffen nicht so genau zu nehmen, ist ausgesprochen bequem. Und oft ist es unmöglich, auf begrifflicher Genauigkeit zu beharren, wenn jemand mit freundlichem Interesse fragt: „Und was ist das Thema Deiner Doku?“ Warum jetzt nicht einfach weiter nett sein und von Doku sprechen, wenn doch alle irgendwie wissen, was gemeint ist. Und wer sollte mir auch folgen wollen, wenn nicht einmal beim Grimme-Preis oder bei der Vergabe des Deutschen Fernsehpreises der Dokumentarfilm als eigene Kategorie im Konzert der informativen Formen überhaupt vorkommt? Warum sollte man dann die tolle Boomstimmung anzweifeln?
Vielleicht weil Begriffe etwas sehr Konkretes sind. Sie prägen unsere Wahrnehmung, können Dinge sichtbar machen oder aber blinde Flecken erzeugen. Ein betont simples Beispiel: Wer über den Begriff einer Buche verfügt, kann bei Gewitter diesen Baum suchen und vor anderen Bäumen weichen. Wer über den Begriff nicht verfügt, der kann den besonderen Baum vor lauter Wald nicht sehen. Oder um es wissenschaftlicher auszudrücken: Unterscheidungsgewohnheiten erzeugen Handlungskonsequenzen.

Es war sicher ein Fehler sich so weit und so leichtfertig auf das Doku-Wort einzulassen und dadurch die Unterscheidungsgewohnheiten für die vielfältigen dokumentarischen Formen aufzugeben. Jeder durchschnittlich Medienkompetente weiß bei Spielfilmen sehr wohl zu differenzieren und seine Vorlieben für Subgenres, Stilepochen oder prägende Regisseure zu benennen und kann diese sogar nach drei Bieren noch begründen. Die uns vertrauten Begriffe bilden ein fein abgestimmtes System in unserem Denken, Kommunizieren und Handeln. Wenn wir aber nicht einmal die Genauigkeit aufbringen, zwischen Doku und Dokumentarfilm zu unterscheiden, dann verschwindet das gesamte Konzept von Dokumentarfilm, als einer vielgestaltigen, neugierigen, kunstvollen Annäherung an komplexe Wirklichkeit. Dann ist einfach alles Doku. Andererseits kann nur durch ein leicht missionarisches Bestehen auf begrifflicher Differenz, die Aufmerksamkeit auf die entscheidenden Unterschiede gelenkt werden. Das wäre wohl notwendige Kulturarbeit - alles andere ist Fritto Misto DocuFIX Style.

Der Dokumentarfilm geht ins Theater Post2PDF

Überlegungen zum Film “Die Reproduktionskrise”
von Jörg Adolph & Gereon Wetzel

“Zeitweiligen Unterschlupf gefunden hat die ernsthafte Erprobung und Weiterentwicklung dokumentarischer Formen derzeit im Theater…” 1

Wir sind Dokumentarfilmer und können das nur bestätigen: Weder Kino noch Fernsehen sind bei der “ernsthaften Erprobung und Weiterentwicklung dokumentarischer Formen” derzeit besonders hilfreich. Hier wie dort scheinen Programm- und Wahrnehmungsraster zementiert. Dagegen ist dokumentarisches Gelingen allgemein zu flüchtig, als dass es sich mit Formatvorgaben und Quotenerwartungen auf Dauer verheiraten ließe. Das ist nicht weiter tragisch. Davon gehen wir aus. Wir erwarten keineswegs, dass der Dokumentarfilm den Kino-Mainstream weiter erobern wird und wir erhoffen auch nicht, dass Fernsehsender demnächst verstärkt nach freien Formen verlangen. Also benötigen wir “zeitweiligen Unterschlupf” in kulturellen Nischen, die eine produktive Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Spielformen des Dokumentarischen begünstigen können. Warum also nicht Theater? (more…)

Kunststück: Castells Post2PDF

von Manfred Riepe: in FUNKKORRESPONDENZ 30.2007

Ein gelungener Dokumentarfilm zeigt das Ungewöhnliche im Alltäglichen und zugleich das Alltägliche im Ungewöhnlichen. Diese Mischung gelingt selten so überzeugend wie in Gereon Wetzels Film über die lebenden Türme von Valls. Durch die zurückhaltende, aber dennoch hautnahe Beobachtung einer 200 Jahre alten katalanischen Tradition hat die Produktion „Castells, lebende Türme” zunächst einen unglaublichen Themenbonus. Doch das Stück erschöpft sich nicht in der äußerlichen Beobachtung dieser Artisten des Alltags. Wetzels 85-minütiger Film ist eine Langzeitbeobachtung, die eine beeindruckende Spannung entwickelt, weil sie dem Zuschauer nach und nach die Statik dieser lebenden Skulpturen vermittelt, die nicht nur mit Muskelkraft zusammengehalten werden.
Zu Beginn erleben wir die Amateurartisten beim Training. Weder ein Off-Kommentar noch eine eingeblendete Erklärung ist nötig, damit der Zuschauer versteht, was hier vor sich geht. Dank einer gelungenen Mischung aus Voiceover und Untertiteln bleibt die sehr lebhafte südländische Atmosphäre des Diskutierens und Disputierens erhalten. Menschen verkeilen sich gegenseitig zu einer komplizierten Traube. Sie steigen aufein-ander und bilden schwankende, pyramidenartige Türme, bei denen bis zu neun Personen überein-ander stehen. Das klappt nicht immer, denn wie beim Turmbau zu Babel reden sie nicht selten auch lautstark aneinander vorbei.
Die Kleinstadt Valls, nördlich von Tarragona gelegen, ist - so viel wird nach und nach klar - die Wiege der sogenannten „Casteller”. Das behaupten zumindest die Einwohner. Die beiden hier beheimateten Vereine „Colla Joves” und „Colla Vella” versuchen sich Jahr für Jahr mit herausragenden Leistungen gegenseitig zu über-trumpfen. Während der Film die komplizierten Vorbereitungen der „Colla Joves” dokumentiert, kommt die Kamera immer wieder auf witzige Weise an Grenzen. Denn entweder man sieht nur die breite Basis oder nur die schwankende Spitze eines Turms: der Godzilla-Effekt.
Die Dramaturgie des Films entspricht so einem langsamen Zurückgehen der Kamera. Es dauert fast eine Dreiviertelstunde, bis wir die erste Totalaufnahme eines menschlichen Turmes, eines „Castells” sehen. Und erst jetzt wird klar, dass ein solcher Turm eine lebendige Metapher des Gemeinschaftsgefüges ist: Die Basis bilden die Eltern, und auf ihrer Grundlage balancieren oben in schwindelerregender Höhe Kleinkinder. Und je älter die Kinder werden, desto weiter wandern sie mit den Jahren und Jahrzehnten nach unten - bis sie so wiederum selbst zur Basis für ihre Kinder werden. „Diese Familien schlagen ihre Wurzeln nach unten, und nur das hält die Colla am Leben”, erklärt Jordi, heute siebzig, der selbst einmal die Turmspitze bildete. Die Symbolik hat etwas ergreifend Simples, ohne dass der Film großes Aufhebens darum machen würde.
Höhepunkt des Films ist der Wettkampf zwischen verschiedenen Turmgruppen. Der sogenannte „Konkurs” findet in einer Stierkampfarena statt und hat Volksfestcharakter: „Castells symbolisieren für uns Katalanen so viel, dass jeder eine Gänsehaut bekommt”, erklärt der frenetische
Stadionsprecher. Radioreporter kommentieren die einzelnen Phasen des Turmbaus mit einem ähnlich heiseren Stakkato, wie man es von südamerikanischen Fußballkommentatoren kennt. Im Vorbeigehen sehen wir piktogrammartige Hinweisschilder, auf denen ausländische Touristen neben den konventionellen Sehenswürdigkeiten auch auf die lebenden Türme aufmerksam gemacht werden. Und ähnlich wie in Pisa kann man die lebenden Türme auch als Miniatur im örtlichen Souvenirladen erstehen.
„Castells, lebende Türme” (Produktion: Sphinx Media), im vorigen Jahr auf dem Dokfest München mit dem Hauptpreis ausgezeichnet, ist ein kurzweiliger Dokumentarfilm, der großen visuellen Reichtum mit der sensiblen Beobachtung eines diffizilen sozialen Gefüges verbindet. Gereon Wetzels Kunststück besteht darin, dass er das Ungewöhnliche tatsächlich bald als alltäglich erscheinen lässt, ohne dass es dabei seinen faszinierenden, exotischen Charakter verliert.