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Zukunft des Dokumentarfilms Post2PDF

Vortrag von Andres Veiel anlässlich des Branchentreffs Dokumentarfilm “Dokville” 2011

Die Zukunft des Dokumentarfilms ist nicht denkbar ohne seine gegenwärtigen Widersprüche: Wir haben eine ungeheuer vielfältige, junge Dokumentarfilmszene, immer mehr Filme werden produziert, 80 bis 100 lange Dokumentarfilme kommen jährlich ins Kino.
Wir haben im internationalen Vergleich die besten Ausbildungsstätten für den filmischen Nachwuchs – und interessieren uns gleichzeitig so wenig für eine kontinuierliche Förderung der Talente nach Abschluss der Ausbildung.
Jährlich strömen etwa 500 Absolventen von Filmhochschulen oder Universitäten mit einem  praktischen Ausbildungszweig auf den Markt. Davon möchten etwa 150 bis 200 im dokumentarischen Bereich arbeiten. Angesichts der wenigen Sendeplätze und begrenzten Fördermittel heißt es, dass hier am Bedarf vorbei ausgebildet wird. Das ist falsch. Es gibt einen gesellschaftlichen Bedarf an guten Filmen, die sich mit Wirklichkeit beschäftigen.
Warum es in Zukunft weniger davon geben wird, hat entscheidend mit den Produktionsbedingungen zu tun – und damit, wie mit den jungen Talenten umgegangen wird.
Die Rolle des Fernsehens hat sich bei der Finanzierung von Dokumentarfilmen schleichend verändert: Die Budgets haben sich – Inflation eingerechnet - in den letzten Jahren deutlich reduziert.
Meine ersten drei Kinodokumentarfilme habe ich Anfang / Mitte der 90er Jahre bei der Redaktion Schauspiel des ZDF gemacht, alle waren Kino-Koproduktionen, die Redaktion  engagierte sich pro Film mit etwa 400.000 DM, mit Filmförderung kamen wir auf 600.000 DM bis 700.000 DM, nach heutigem Stand sind diese Beträge etwa mit Euro gleichzusetzen. Mit diesen Budgets konnten die Filme fundiert recherchiert, vorbereitet und mit dem notwendigen Zeitbudget gedreht und geschnitten werden. Die Qualität der Ergebnisse hatte wesentlich mit diesen Produktionsbedingungen zu tun.
1998 wurde die Redaktion Schauspiel im ZDF-Hauptprogramm aufgelöst, der Etat wanderte – was die dokumentarischen Formate angeht – zur Redaktion des Theaterkanals. Das bedeutete für die Produktionen ähnlicher Länge, mit einem Bruchteil des Geldes klar kommen zu müssen. Das Beispiel steht für viele andere.
Es gibt einige wenige Dokumentarfilmer meiner Generation, die sich – trotz dieser Einschränkungen -  in der öffentlichen Wahrnehmung etablieren konnten. Dazu gehören Regisseure wie Thomas Heise, Stefan Schwietert, Volker Koepp, Christoph Hübner, Thomas Riedelsheimer oder Heidi Specogna, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit Dokumentarfilme fürs Kino produzieren. Dazu gehören auch Kollegen wie Wim Wenders oder Pepe Danquart, die mit ihrer Erfahrung als Spielfilmregisseur den Dokumentarfilm mit innovativer Kraft neu positionieren. Sie alle haben das Privileg, aufgrund ihrer Bekanntheit mit größeren Budgets arbeiten zu können, sie konnten etwas ausprobieren, ins Risiko gehen, es gab und gibt Redakteure, die ihnen diesen Raum gegeben haben und zum Teil immer noch geben. In 20 Jahren wird es von diesen Kollegen vielleicht noch das eine oder andere Alterswerk geben. Wer rückt nach, wer wird dieses Erbe übernehmen?
Ich unterrichte inzwischen fast 15 Jahre an Filmhochschulen. Nur eine verschwindend geringe Prozentzahl von denen, die nach dem Studium mit einem Dokumentarfilmprojekt gestartet sind, finanziert durch das kleine Fernsehspiel oder über die Reihe „Junger Dokumentarfilm“ des SWR -  sind dem Metier treu geblieben. Einige waren mit ihren Filmen durchaus erfolgreich, sie wurden bei Festivals ausgezeichnet, hatten sogar an der Kinokasse respektable Ergebnisse und bei der Ausstrahlung eine gute Quote. Dennoch geben die meisten danach auf. Sie arbeiten in anderen, verwandten Medienberufen, wechseln zum Spielfilm, unterrichten.
Es ist keineswegs so, dass sie keine Dokumentarfilme mehr machen wollten. Fast jeder erzählt mir von dem einen oder anderen Projekt, an dem er oder sie weiter arbeiten wollte, dessen Herstellung sich aber über Jahre hinzog. Sie hatten das Interesse einer Förderung, doch die Bedingung für einen Zuwendungsbescheid war die Beteilung eines TV-Senders. Ein Sender hatte Interesse, doch nur, wenn ein zweiter dazukommt. Doch der zweite sagte nach einer einjährigen Entscheidungsphase ab, damit war auch die bedingte Zusage des ersten Senders hinfällig. Nach zwei Jahren entschieden sich die Macher für eine „freie“ Produktion. Sie arbeiteten am Wochenende, im Urlaub, nach Feierabend. Sie drehten und schnitten selbst und waren froh, den Film nach vier Jahren fertig stellen und schließlich für 12.000 Euro an einen Spartensender verkaufen zu können.
Damit bezahlten sie das Grading, die Mischung und den Cutter. Das, so sagen sie, können wir uns kein zweites Mal leisten.
Warum gibt es keine Kontinuität beim Aufbau von Regisseuren im dokumentarischen Bereich?
Exemplarisch deutlich wird diese Situation beim ZDF. Das Kleine Fernsehspiel baut gezielt Nachwuchsregisseure im Bereich des künstlerischen Dokumentarfilms auf.  Nach der dritten Produktion muss die Redaktion die Talente mit Bedauern sich selbst überlassen, da es im Hauptprogramm keine Sendeplätze für den langen Dokumentarfilm gibt. Die ratlosen Regisseure bekommen dann den Tipp,  vielleicht mal einen Spielfilm zu machen. Oder es ab jetzt doch bitte bei einem der Spartenkanäle zu versuchen - mit wesentlich geringeren Budgets.
Zu dieser Misere kommt noch eine andere.
Erfolgreiche Dokumentarfilme werden über das Thema wahrgenommen, nicht aber über den Regisseur oder die Regisseurin. Haben die Filmemacher ein neues Projekt mit einem Thema, was nicht die gleiche Durchschlagskraft zu haben scheint wie der  erste Erfolgsfilm, müssen sie sich genau wie alle anderen bei den Sendern und Förderern in die lange Schlange der finanziellen Bittsteller anstellen. Es sei denn, sie haben das Glück, an einen Produzenten mit einem guten Standing zu geraten, dem es durch internationale Vernetzung gelingt, ein größeres Budget zu organisieren.
Diese Entwicklung ist nicht zufällig, sie findet eine kausale Begründung in den Erfordernissen der formatierten Dokumentarprojekte, die in den letzten zehn Jahren die TV- Programme dominiert haben.
Darin ist weniger die künstlerische Persönlichkeit der Filmemacher gefragt, als die handwerkliche Fähigkeit, vorgegebene Formate und Module zu füllen, die von Producern und Redakteuren entwickelt wurden. Gesucht wird eben genau nicht der Regisseur, der über Jahre seine Handschrift entwickelt hat. Im Gegenteil, je eigenwilliger, spezifizierter die Handschrift, desto mehr entsteht aus der Sicht der Redaktion die Gefahr, dass die vorgefertigten Formatmodule nicht maßstabsgetreu abgeliefert werden.
Wer überleben will in der Branche, passt sich an, liefert gutes Handwerk ab -  zum Teil durchaus mit Qualität und Erfolg. Aber das, was die jungen Macher auszeichnet – ungestüme Neugierde, formale Unberechenbarkeit – für all das interessiert sich niemand mehr.
Man muss es einmal so drastisch sagen:
Dieses Land leistet es sich, seine besten Talente auf dem Gebiet des künstlerischen Dokumentarfilms zunächst aufzubauen, um sie dann systematisch verkümmern zu lassen.
Die Menge der produzierten Dokumentarfilme wuchert dieses drastische Defizit scheinbar zu. Erst bei genauerem Hinsehen wird offensichtlich, wie wenige Filme es gerade unter jungen Dokfilmern gibt, die formal oder inhaltlich ins Risiko gehen, Neuland betreten, ihre Geschichten filmisch anders, unerwartet erzählen. Unter den Bedingungen, unter denen sie entstehen, kann sich niemand eine ausgiebige Recherche leisten. Es gibt kaum Filme, die sich mit den eigentlichen Krisen und den Machtverhältnissen des Landes auseinandersetzen, weder gegenwärtig noch historisch. Das ist den Machern nicht vorzuwerfen, sie können unter den gegebenen Produktionsbedingungen sich nicht auch noch in juristische Gefahrenzonen hinein begeben.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die meisten der 80 Dokumentarfilme kaum mehr als 3000 Zuschauer im Kino erreichen. Der Zuschauer erwartet einen ästhetischen und inhaltlichen Mehrwert. Wenn er den nicht geboten bekommt, bleibt er zu Hause.
Das ist einer der Gründe, warum der Dokumentarfilm in die Krise kommen wird – und das nicht erst in 20 Jahren. Wenn dieses Genre sich aus sich heraus nicht immer wieder erneuert, wird es langfristig als dokumentarische Kunstform aussterben.
Diese Entwicklung ist deshalb dramatisch, weil sie sich mit einer weiteren verstärkt.
Das Publikum für Dokumentarfilme wird immer älter – das betrifft das Fernsehen wie das Kino. In den in die Jahre gekommenen Programmkinos ist der Trend offensichtlich: Das Publikum besteht vorwiegend aus denjenigen, die als Jugendliche in die neu gegründeten Programmkinos pilgerten – und den Häusern auch im fortgeschrittenen Alter die Treue hält. Die Spätschienen wurden in den meisten Kinos längst abgebaut. Dokumentarfilme laufen auf den Frühabend- oder sogar den Nachmittagsschienen oftmals schon erfolgreicher als auf der Abendschiene.
Insgesamt gehen deshalb (noch)  nicht weniger Menschen ins Kino.
Aber auch das wird sich langfristig verändern. Die Generation von Zuschauern, die mit den Programmkinos groß geworden ist, wird altershalber dem Kino fern bleiben.  Vielleicht wird das eine oder andere Programmkino erhalten bleiben – als Altenclub der Caritas.
Diese Entwicklung ist zu spät erkannt worden. Sie hat – neben der erwähnten mangelnden Qualität - auch eine natürliche Ursache. Als Jugendlicher geht man nicht in das Kino, von dem die eigenen Eltern schwärmen, sich dort zum ersten Mal geküsst zu haben. Dass die nachfolgende Generation wegbleibt, ist von daher gesehen nahe liegend. Umso wichtiger ist es, die Enkelgeneration in die Programmkinos zurück zu holen. Sonst stirbt dieses Kino – und mit ihnen eine Filmkultur, für die wir einstehen.
Und die in den nächsten 20 Jahren noch wichtiger wird als bisher. Das Fernsehen wird endgültig seine Vormacht, Bilder zu produzieren und zu verbreiten, an das Internet abgeben.
Der barrierefreie Zugang zu den technischen Mitteln einschließlich des Schnitts und der Verbreitung über das Netz, wird immer mehr Menschen dazu bringen, ihren Alltag abzubilden und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Mit der Bilder – und  Informationsflut wird damit die Sehnsucht nach Struktur, nach Auswahl und Übersicht zunehmen.
Und damit die Notwendigkeit eines Kurators, der nicht nur das verbreitet, was ohnehin existiert, sondern auswählt, fördert, Akzente setzt und damit nicht nur abgebildete Phänomene verbreitet, sondern Kontexte herstellt, Gewordenheiten sichtbar macht, indem hinter den Oberflächenreiz der Dinge geschaut, ihre Geschichtlichkeit herausgearbeitet wird.
Das Kuratieren von Filmen, die sich vom Strom der Bilderflut abheben, die ihn strukturieren, verdichten, vertiefen… das wird eine der Hauptaufgaben des Fernsehen sein, will es sich nicht selbst abschaffen.
Und damit wird, verzeihen Sie meinen Optimismus, das öffentlich-rechtliche Fernsehen aus eigenem Überlebensinteresse gar nicht darum herumkommen, den Dokumentarfilm nicht nur als Albiaushängeschild im Programm zu halten.
Die Anstalten fühlen sich – nach der Herausforderung durch die privaten Kanäle -  zusätzlich unter Druck:  durch die Popularität des munteren Trashs bei Youtube und durch die Schnelligkeit der Informationsverbreitung bei Twitter und Facebook. Die Sender haben das Privileg bei der Herstellung und Verbreitung der Bilder längst verloren, das ist ein traumatischer Verlust, der in seiner Tragweite noch nicht angekommen, geschweige denn verarbeitet worden ist.
Die öffentlich-rechtlichen Sender werden endgültig ihren Status als  Leitmedium verlieren, wenn sie sich nicht wieder auf ihre Kernkompetenz besinnen, und das ist der Bildungsauftrag.  Und das heißt nichts anderes, als Informationen nicht nur aktuell anzuliefern und aufzubereiten, um sie dann allabendlich in Talkshows wortreich wieder verdunsten zu lassen. Sondern Kontexte herzustellen – und  dazu braucht es  den Dokumentarfilm, die Reportage und auch die kürzeren Formen als essentieller und täglicher Programmbestandteil.
Das Genre wird in der Zukunft für ein demokratisches Gemeinwesen notwendiger denn je  sein –  als kulturelles Gedächtnis, als Instrumentarium, eine komplexe Wirklichkeit neu und in einem anderen Kontext zu betrachten, als Rastplatz der Reflektion – und damit als Sauerstoff einer Gesellschaft, die sich angesichts eines Terrors der informativen Verfügbarkeit  immer mehr das Innehalten, die Reflektion, die Selbstvergewisserung leisten muss.
Umso  wichtiger ist es, der langfristigen Gefährdung des Dokumentarfilms durch mangelnde Unterstützung  des Nachwuchses, dem Verlust des jüngeren Publikums sowie der fortdauernden Ignoranz seiner gesellschaftlichen Bedeutung nicht nur mit Appellen entgegenzutreten.
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen wird für die langfristige Bewahrung des Genres nicht durch plötzliche Einsicht in den Führungsetagen Verantwortung übernehmen, sondern durch politischen Druck von außen. Der muss von uns, von unseren Verbänden, in den nächsten Jahren systematisch aufgebaut und verstärkt werden. Erste zarte Erfolge um den (teilweisen) Erhalt der Sendeplätze für Reportagen oder der Umverteilung von Etats beim WDR zeigen, dass Interventionen der Politik nicht immer wirkungslos verpuffen müssen. Entscheidend für durchgreifende Verbesserungen ist das sogenannte Schraubstockverfahren: Neben dem Außendruck müssen wir die Verbündeten in den Anstalten unterstützen, die die Zeichen der Zeit erkannt haben, denen aber (noch) die Hände gebunden sind.
Der Dokfilm kann nicht aus sich selbst heraus überleben. Jenseits aller spontanen Schnellschüsse braucht er die Subvention der Sender und der Filmförderungen. Das wird in 20 Jahren genauso sein wie heute.
Die nötigen Finanzmittel für eine notwendige Wertschätzung und Anerkennung des Kulturgutes Dokumentarfilm sind in den Anstalten vorhanden. Das Geld muss nur umverteilt werden. Und das muss politisch gewollt und durchgesetzt werden.
Die zunehmende Verschmelzung von Netz und TV hat dabei durchaus positive Effekte: Die Frage der Abschiebung von Dokumentarfilmen ins Spätprogramm wird sich in wenigen Jahren erledigt haben, der Zuschauer wird sich die Sendungen, die im Angebot sind, in eigener Reihenfolge zusammenstellen. Das wird eine Chance sein, wieder mehr Zuschauer an komplexere Darstellungsformen heranzuführen.

Dass das im richtigen Rahmen funktioniert, zeigen bereits andere kuratierte Abspielorte, die Festivals. Sie boomen was ihre Anzahl angeht wie auch den Zuspruch der Zuschauer. Die Festivals leisten in der Flut des Angebots eine Auswahl  - und schaffen damit einen Vertrauensvorschuss für den einzelnen Film. Und ihnen gelingt etwas, was dem Fernsehen und den Kinos mit ihren Einzelvorstellungen verloren gegangen ist: Sie holen ein Publikum, das bei RTL2 und youtube filmisch sozialisiert wurde, ins Kino zurück….
Will man diese Zuschauergruppe auch für die Einzelvorstellung im Kino oder im TV wieder interessieren, braucht es zusätzliche Anreize: Games, die einen spielerischen Umgang mit der Thematik ermöglichen, Blogs, die Alltagsbezüge herstellen. Und eine Medienpädagogik, die das Genre in den Unterricht einbringt, das Kino in die Schulen holt und die Schulen in die Kinos.
Es wird immer wichtiger, Filme nicht nur einfach zu zeigen. Die Beliebtheit von Festivals zeugen auch von einem Hunger nach Kontext – der Einbeziehung der Macher, dem Aufzeigen von Trends, der Vertiefung der Thematik durch Debatten und Diskussionen.
Aber auch das perfekt inszenierte Ereignis funktioniert nur dann, wenn der Film,  um den es herum aufgebaut wird, Substanz hat, wenn das Vertrauensband zwischen Kurator und Zuschauer hält. Das geht nicht durch serielle Massenware, sondern ausschließlich durch Unikate, die sich dem anschwellenden Bildersturm entgegenstellen, aus ihm herausragen -  durch fundierte Recherche, eigene Handschrift, der Transparenz der Mittel, ja und durchaus – auch einem Unterhaltungswert. Und die zugleich auch mit einem Namen seines Machers bürgen. Dafür muss dieser Name aber aufgebaut, d.h. gepflegt werden, von Förderern, Produzenten, Redakteuren, Verleihern.
Dann wird der Dokumentarfilm genau die Zukunft haben, die er braucht und verdient. Jetzt und in 20 Jahren.

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