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Kunststück: Castells Post2PDF

von Manfred Riepe: in FUNKKORRESPONDENZ 30.2007

Ein gelungener Dokumentarfilm zeigt das Ungewöhnliche im Alltäglichen und zugleich das Alltägliche im Ungewöhnlichen. Diese Mischung gelingt selten so überzeugend wie in Gereon Wetzels Film über die lebenden Türme von Valls. Durch die zurückhaltende, aber dennoch hautnahe Beobachtung einer 200 Jahre alten katalanischen Tradition hat die Produktion „Castells, lebende Türme” zunächst einen unglaublichen Themenbonus. Doch das Stück erschöpft sich nicht in der äußerlichen Beobachtung dieser Artisten des Alltags. Wetzels 85-minütiger Film ist eine Langzeitbeobachtung, die eine beeindruckende Spannung entwickelt, weil sie dem Zuschauer nach und nach die Statik dieser lebenden Skulpturen vermittelt, die nicht nur mit Muskelkraft zusammengehalten werden.
Zu Beginn erleben wir die Amateurartisten beim Training. Weder ein Off-Kommentar noch eine eingeblendete Erklärung ist nötig, damit der Zuschauer versteht, was hier vor sich geht. Dank einer gelungenen Mischung aus Voiceover und Untertiteln bleibt die sehr lebhafte südländische Atmosphäre des Diskutierens und Disputierens erhalten. Menschen verkeilen sich gegenseitig zu einer komplizierten Traube. Sie steigen aufein-ander und bilden schwankende, pyramidenartige Türme, bei denen bis zu neun Personen überein-ander stehen. Das klappt nicht immer, denn wie beim Turmbau zu Babel reden sie nicht selten auch lautstark aneinander vorbei.
Die Kleinstadt Valls, nördlich von Tarragona gelegen, ist - so viel wird nach und nach klar - die Wiege der sogenannten „Casteller”. Das behaupten zumindest die Einwohner. Die beiden hier beheimateten Vereine „Colla Joves” und „Colla Vella” versuchen sich Jahr für Jahr mit herausragenden Leistungen gegenseitig zu über-trumpfen. Während der Film die komplizierten Vorbereitungen der „Colla Joves” dokumentiert, kommt die Kamera immer wieder auf witzige Weise an Grenzen. Denn entweder man sieht nur die breite Basis oder nur die schwankende Spitze eines Turms: der Godzilla-Effekt.
Die Dramaturgie des Films entspricht so einem langsamen Zurückgehen der Kamera. Es dauert fast eine Dreiviertelstunde, bis wir die erste Totalaufnahme eines menschlichen Turmes, eines „Castells” sehen. Und erst jetzt wird klar, dass ein solcher Turm eine lebendige Metapher des Gemeinschaftsgefüges ist: Die Basis bilden die Eltern, und auf ihrer Grundlage balancieren oben in schwindelerregender Höhe Kleinkinder. Und je älter die Kinder werden, desto weiter wandern sie mit den Jahren und Jahrzehnten nach unten - bis sie so wiederum selbst zur Basis für ihre Kinder werden. „Diese Familien schlagen ihre Wurzeln nach unten, und nur das hält die Colla am Leben”, erklärt Jordi, heute siebzig, der selbst einmal die Turmspitze bildete. Die Symbolik hat etwas ergreifend Simples, ohne dass der Film großes Aufhebens darum machen würde.
Höhepunkt des Films ist der Wettkampf zwischen verschiedenen Turmgruppen. Der sogenannte „Konkurs” findet in einer Stierkampfarena statt und hat Volksfestcharakter: „Castells symbolisieren für uns Katalanen so viel, dass jeder eine Gänsehaut bekommt”, erklärt der frenetische
Stadionsprecher. Radioreporter kommentieren die einzelnen Phasen des Turmbaus mit einem ähnlich heiseren Stakkato, wie man es von südamerikanischen Fußballkommentatoren kennt. Im Vorbeigehen sehen wir piktogrammartige Hinweisschilder, auf denen ausländische Touristen neben den konventionellen Sehenswürdigkeiten auch auf die lebenden Türme aufmerksam gemacht werden. Und ähnlich wie in Pisa kann man die lebenden Türme auch als Miniatur im örtlichen Souvenirladen erstehen.
„Castells, lebende Türme” (Produktion: Sphinx Media), im vorigen Jahr auf dem Dokfest München mit dem Hauptpreis ausgezeichnet, ist ein kurzweiliger Dokumentarfilm, der großen visuellen Reichtum mit der sensiblen Beobachtung eines diffizilen sozialen Gefüges verbindet. Gereon Wetzels Kunststück besteht darin, dass er das Ungewöhnliche tatsächlich bald als alltäglich erscheinen lässt, ohne dass es dabei seinen faszinierenden, exotischen Charakter verliert.

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