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Casas para todos - Häuser für alle Post2PDF

Ein paar Gedanken von Gereon Wetzel

„Studieren wir die Geschichte der Völker, so finden wir, dass sie genauso ihre Grillen und Eigenheiten haben wie Individuen. Wie diese durchleben sie Phasen der Erregung und der Unbesonnenheit. Ganze Staaten leben plötzlich nur noch auf ein Ziel hin und werden bei dessen Verfolgung schier verrückt; Millionen von Menschen sind gleichzeitig von einer und derselben Wahnidee besessen und laufen ihr so lange nach, bis eine neue Narretei noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht“.

Soweit das Vorwort von Charles Mackay aus seinem 1852 erschienenem Buch „Zeichen und Wunder - Aus den Annalen des Wahns“, das am Ende meines Films steht. In „Extra­ordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds“, so der schöne Originaltitel,  geht er den bis dahin bekannten Spekulations­blasen nach, Verirrungen mit so selt­samen Namen wie Tulipomania oder South Sea Bubble. Wie hätte er wohl die große spanische Immobilien­blase genannt: Vielleicht Casas para todos - Häuser für alle?
In einem verwüsteten Verkaufsbüro der insolventen „Grupo Trampolín“ entdecken wir diesen Slogan, in Klebe­buchstaben an die völlig zersplitterte Scheibe geheftet, aus der man gerade noch die vier ramponierten Musterhäuser gegenüber erkennt: HÄUSER FÜR ALLE, das klingt so wie Freibier für alle. Man muss nur zugreifen, ein Kreditgeber ist schnell gefunden. Aber es sind nicht nur Häuser für jeden, jeden Geldbeutel, jedes soziale Gefüge, sondern vor allem: Es sind genug für alle da, für alle, die schon immer mit der Idee geliebäugelt haben, ein Eigenheim zu besitzen. Im Jahr 2000 begann unter der Regierung José María Aznars ein beispielloser Bauboom, der sich am Ende der Dekade und der beginnenden Finanzkrise in Zahlen so darstellte: 3,6 Millonen Wohnungen - fertig, halbfertig, erschlossen, projektiert. Ohne Zukunft.
Wie soll man dem filmisch begegnen? Ist nicht eigentlich schon alles zur Krise gesagt? Eine schnöde Blase, wie alle anderen vor ihr auch. Zyklisch alle 25 Jahre wie John Kenneth Galbraith in „Eine kurze Geschichte der Spekulation“ anmerkt, solange bis das kollektive Gedächtnis wieder gelöscht zu sein scheint. „Spain is different“ war der Slogan der Franco Diktatur und natürlich sind die Voraussetz­ungen in jedem Land anders, gerade in Spanien, ein von bitterer Armut geprägter aufstrebender Staat, in dem naturgemäß nichts so wichtig ist, wie das Erlangen eines besseren Status. Wer könnte es ihnen verdenken und wer würde nicht auch zuerst zu den festen Werten greifen, zur unverrückbaren Immobilie, dem Inbegriff von Sicherheit? Und dennoch scheinen die Parameter dieser Blase austauschbar: Gier, Verführung, Realitäts­verlust, Massenhysterie. Davon handelt mein Film.

Mein Kollege Raúl Fernandez und ich reisten umher von einer Ruinenstadt zur nächsten Geistersiedlung, auf der grünen Wiese und im städtischen Ballungs­raum. Wir ließen die große kulturelle Vielfalt Spaniens links liegen und fragten an jeder Ecke Einheimische nach dem aussichtslosesten Bauvorhaben der Region. Und es gibt viele und jedes hat seine Geschichte, eine komplexe und universelle zugleich. Mich erinnerte unsere Arbeit immer an eine archäologische Prospektion. Beim sogenannten „Survey“ geht der Archäologe in fest abgesteckten Bahnen über einen Acker und sammelt alles auf, was er oberflächlich in die Finger bekommt. Zunächst eine nüchterne Bestandsaufnahme, ein Akt der leidenschaftslosen Sammlung von Beweisen. Später im Labor liegen dann neolithische Steinbeile neben neuzeitlichen Ton­krügen, alles hochgewühlt und vermischt durch den Tiefpflug. Die Aussagen, die sich treffen lassen, sind im Detail vage und unscharf, aber im Ganzen von großer Tragweite und Aussagekraft: Die Geschichte eines Ortes, seiner Besiedlung und seines Untergangs.
Breite ich meine Filmaufnahmen ebenso nebeneinander aus, finde ich dort die unterschiedlichsten Schicksale von Orten und Menschen. Alle Orte verbindet ihre Nutzlosigkeit, temporär oder für immer. Sie werden zu Unorten, dem reinen Verbrauch von Fläche, einem radikalen Verwer­tungs­interesse untergeordneten, fast geschicht­slosen Boden. Innerhalb dieses Rahmens suchten wir nach Bedeutung, ein Trotzen gegen die Leere, die fehlende Geschichte. Wir finden ein Biotop, in dem sich die Natur unbeirrt ihre Daseinsberechtigung zurückerobert oder Menschen, die just nach einem solchen Ort mit genau diesen Eigenschaften gesucht haben, wie etwa die Busfahrschule, die die breiten Straßen und den fehlenden Verkehr als Parcours zum Erlernen einer ökonomischen Fahrweise nutzt. Diese Menschen bespielen die Orte, sie lassen mit ihrer Präsenz die Leere erst richtig leer wirken und weisen ihr neue Bedeutungen zu. Die Filmmontage spürt dem nach. Weit von einander entfernte Orte werden verbunden, mal über die reine Assoziation, mal über eine thema­tische Engführung, mal über Klang und Farbe, aber immer im Sinne eines Gesamtbogens. Oder es werden verschiedene Materialien und Fragmente ineinandergefügt: die grellen und lauten Werbefilme, statische und zentral­perspektivische Architekturaufnahmen, Dokumentar­isches, Hand- und Stativkamera, Musikteile von Josef Mayerhofer, Tondokumente aus Interviews und Reden sowie Texttafeln. Ganz in der Gestalt einer Collage: fragment­artig, semantisch deplatziert und dekontextualisiert, wie die Tonspur der Website einer Baufirma über den Bildern eines Systems aus leeren Straßen.
„Eine Hypothek beruht auf einem realen Besitz und hat immer einen objektiven Wert. Es gibt Sachen, die kosten heute 100 und morgen nur noch 50 - aber es ist dein Haus, das hat immer einen Wert.“

Eine fatale Überlegung, die der Banker Isidre Fainé, immerhin Präsident der CaixaBank, einer der größten Banken Spaniens noch 2011 anstellte. Dieser Gedanke stand wohl am Anfang dieser letzten und noch andauernden Finanz- und Wirtschaftskrise und riss unzählige Privatleute, aber auch Unternehmen aus aller Welt in den Abgrund. Später im Film sieht man, wie die Wohnungen aus dem gewaltigen Bauprojekt „Seseña“ des Baulöwen Francisco Hernando (alias Paco El Pocero, übersetzt „Der Kanalbauer“) um 60% verbilligt auf den Markt geworfen werden. Dieser äußerte sich 2008 in einer Talkshow standesgemäß und erntete für diese Einlassung tosenden Applaus:

„In drei Monaten beende ich die Arbeitslosigkeit in meinem Land.
- Und wie?
Wie? Alles zu Bauland erklären - und zwar schon morgen!“

Fünf schwarze Tafeln mit weißer Schrift und den Zitaten von Politikern und Bankern aus ganz unterschiedlichen Phasen des Baubooms tauchen im Film auf. Sie sind keineswegs als Überschriften zu ver­stehen, sondern entfalten ihre Wirkung zusammen mit den Bildern und Geschichten des Films. Vielmehr als der Versuch einer Erklärung loten sie Stimmungslagen aus, zeigen politisches Kalkül und die billigen Ausflüchte einer poli­tischen und wirtschaftlichen Elite. Die Verführer finden so zu ihren Opfern, wie der zitierte Banker zu jener An­gestellten aus dem besetzten Haus, die ihre Raten für die 200.000 Euro teure Eigentumswohnung nicht mehr be­­dienen konnte. Sie schloss sich der politischen Bewegung 15M, der spanischen Variante der Occupy-Bewegung an, die in Sevilla einen leeren Neubau in Besitz hält und 26 obdachlose Familien dort unterbrachte. Erst auf den zweiten Blick macht man sich vielleicht Gedanken darüber, welche Versprechungen und Überlegungen vorausgegangen sein mögen, dass die Angestellte eines Pflegeheims sich ein solches Objekt glaubte leisten zu können.
Alles ist komplex und vielschichtig, nichts einfach erklärbar, sondern wirkt lediglich zusammen. Es entsteht ein unscharfes Bild und doch ist es genau dies, welches der Realität meiner Auffassung nach am nächsten kommt. Hans Peter Dürr, der Quantenphysiker, setzt sich in seinem Buch „Das Lebende lebendiger werden lassen“ mit dem Unterschied der naturwissenschaftlichen und der poetischen Betrachtungsweise auseinander. Dort heißt es:

“Wir verlangen bei unserer Wahrheitsfindung, dass sie zu eindeutigen Feststellungen führt. Wir übersehen dabei, dass aufgrund der komplexen Struktur unserer Wirklichkeit Eindeutigkeit, Exaktheit, Schärfe eigentlich nur mit Isolation des herausgegriffenen Sachverhalts erreicht werden kann. Isolation bedeutet notwendig eine Lostrennung vom kausalen Umfeld, eine Durchschneidung von Beziehungen zur Umgebung.“

Und weiter:

„Relevanz, Bedeutsamkeit eines Sachverhaltes wird nur sichtbar, wenn ich meinen Blick nicht auf ein Detail konzentriere oder ein Detail herausgreife, sondern vielmehr das ganze Bedeutungs- oder Assoziations­feld des Sachverhaltes mit in meine Betrachtung ein­beziehe. Dies entspricht aber mehr einer poetischen Betrachtung. Mit der Preisgabe der Schärfe, der geringeren Beachtung des isolierten Details kommt in gleichem Maße die Gestalt, die Beziehungsstruktur besser zum Ausdruck. Hier liegt die Betonung nicht mehr auf einer Beschreibung der einzelnen Objekte, sondern auf deren Einbettung in einen größeren Zusammenhang, gewissermaßen auf die Landschaft oder Topologie, in der sie vorkommt“.

Ich erkenne in diesen Sätzen viele Grundpfeiler meines dokumenta­rischen Arbeitens wieder. Dokumentarfilm als Träger von linear visualisierten Informationen in didaktischer Gestalt bedeutet für mich in Dürrs Sinne das Einbüßen des Erzählens und die Verweigerung, die Wirklichkeit als ein kompliziertes System von unendlich vielen Objekten, die miteinander in Beziehung stehen, zu begreifen. Wenn Poesie also heißt, Bilder und Klänge rhythmisch zu etwas Ganzem, Beziehungs­reichem und Unscharfem zusammenzufügen, dann kann man diesen Film als Gedicht lesen.

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